Stream
und Hirn
Mein Freund Martin ist Buchhändler. Er sagt, dass er in letzter Zeit enorm viele Landkarten verkaufe. «Oh, physische Landkarten?», fragte ich und war erstaunt, weil wir haben ja Google Earth und wandern.ch und überhaupt GPS. «Eben darum», antwortete Martin, worauf ich die Probe aufs Exempel machte, über einen Berg wanderte und verdattert feststellte, dass mir mein Handy zwar zuverlässig meine Position bekanntgab, dass mir das aber überhaupt nicht half, mich im Raum des steilen Bergwaldes zu orientieren.
Martin, mein Freund, drückte mir daraufhin den Ausdruck eines Interviews mit der Amerikanerin Maryanne Wolf in die Hand, sie ist Professorin für Leseforschung. Frau Wolf sagt, dass Lesen am Bildschirm und lesen auf Papier nicht dasselbe seien. Weil das Hirn Bildschirm und Papier anders verarbeite. Bildschirm als schnelle Information, Papier als tiefe Verortung. Wenn ich zum Beispiel ein Buch lese und es kommt auf Seite 200 ein Hund vor, dann weiss mein Hirn, dass dieser Hund schon im ersten Viertel des Buches aufgetaucht ist. Das heisst: Es gibt eine Räumlichkeit beim Buchlesen. Auf dem E-Reader verliere ich die Räumlichkeit einer Geschichte und kann sie deshalb nicht so gut erinnern. Sagt Frau Wolf.
Und zack – funkten meine Synapsen einen Impuls von meiner Lese-Hirnregion zu meinem riesigen Hirnteil, der für Musik zuständig ist. Und mir wurde endlich klar, warum ich mit den Streamingportalen von Apple und Spotify und Deezer seit Jahren nicht wirklich zurechtkomme: Ich kann zwar endlos im Angebot von 40 Millionen Songs herumwühlen, ich kann mir Playlists anlegen und Tipps von Freunden anhören und Punkte verteilen und so. Aber das schafft keine wirkliche Orientierung.
Meine physische Sammlung von Vinyl und CDs hingegen ist über Jahrzehnte entstanden und räumlich in meinem Kopf «hinterlegt»: Wenn ich «El Pardal» von Dusminguet hören will, gehe ich zu meinem Worldmusic-Regal, Abteilung Mestizo, die befindet sich zwischen Afrikanisch und Reggae, die gesuchte CD ist am Anfang der zweiten Reihe fein säuberlich platziert neben den anderen beiden Dusminguet-Alben. Dazu brauche ich nicht mal eine alphabetische Ordnung. Sondern eine räumliche. Und die ist in meinem Kopf. Die CD zu holen und einzulegen, das nur nebenbei, dauert nicht mal halb so lange, wie wenn ich am Handy rumdrücke.
Physische Tonträger sind also wissenschaftlich erwiesen besser als Streaming, wenn man es mit der Musik wirklich ernst meint. Und falls Sie jetzt unter 20 sind und sagen, ich sei ein alter Sack und Sie hätten immer schon nur gestreamt, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Frau Wolf sagt nämlich auch, dass räumliche Wahrnehmung auch für Digital Natives gilt.
Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass Bono Vox verboten werden sollte
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