
ALCEST
Les Chants de l’Aurore
Nuclear Blast
en. Nicht nur wegen des Namens des Hauptakteurs in ALCEST, Neige, verbindet man diese Band oft mit Winter oder Kälte. Die Mischung aus Black Metal-Elementen und Shoegaze eignet sich eher weniger für ein spritziges Sommeralbum. Doch schon der erste Track auf «Les Chants de l’Aurore» stellt eine wundervolle Antithese zur tief verankerten Hoffnungslosigkeit seiner älteren Werke dar. Es ist nicht ungewöhnlich für Neige, mit verschiedenen Genres zu spielen und sie zu fusionieren. Doch Melancholie wurde stets großgeschrieben. Passend dazu wurden seine Werke generell im Winter oder Herbst veröffentlicht.
Wie passt dieser plötzliche Sinneswandel in das Gesamtbild des Bandprojekts? Es scheint, als wäre ALCEST an einen Punkt gekommen, an dem sie sich aus den Fesseln des Black Metals lösen konnten, ohne dessen Elemente ganz aufzugeben. Verzerrte, dröhnende Gitarrenpassagen bleiben, werden aber durch Pop-Facetten überdeckt. Puristen mögen dies kritisieren, doch es ist unmöglich zu leugnen, dass das fast schon sonnige Gemüt des Albums vor Kreativität strotzt. Die Freiheit, die sich Neige in diesem Pool von Genres herausnimmt, überzeugt auf ganzer Linie.
Ein Beispiel dafür ist «L’Envol», das mit einer Wall of Sound beginnt, irgendwo im Shoegaze oder Post-Black Metal anzusiedeln ist und sich in eine hoffnungsvolle Melodie entwickelt. Neiges Stimme hat immer noch etwas Leidendes, doch gleichzeitig scheint sie nicht zu verzagen. Wenn die Frauenstimme einsetzt, beflügelt die Harmonie und wirkt wie ein Sonnenschein nach langer Trauer. Gerade wenn man sich an dieses Gefühl gewöhnt hat, wiegt der Track den Hörer in einer Bridge und verinnerlicht diese Emotionen. Doch Neige vergisst nicht einmal in dieser heilen Welt seine wahren Wurzeln und screamt sich gegen Ende des Songs die Seele aus dem Leib.
Mit diesem glorreichen Start hat das Album ordentlich Momentum gewonnen, das auch im nächsten Titel genutzt wird. Dieser ist etwas härter, vernachlässigt aber das Konzept der Sanftmut nicht. Es wird mehr gescreamt, was hier eine gewisse Stärke und Bestimmtheit zeigt. Nach den ersten drei epischen Stücken ist bereits das halbe Album vorbei.
Die zweite Hälfte brilliert vor allem durch den vierten und letzten Epos “L’Enfant de la Lune (月の子)”. Nach einem kurzen japanischen Interlude gibt es kein Halten mehr und ALCEST kanalisiert alle Energie in einen unvergleichlichen Blastbeat.
Dieses Album ist eine Bereicherung für sämtliche Genres, die es tangiert oder vollständig auslebt. Es ist ohne Zweifel ein Highlight für modernen Shoegaze oder sogar für Fans von Black Metal, die nicht allzu verbissen sind. Wer Hoffnung mit einer Prise Melancholie romantisiert, ist hier genau am richtigen Ort.
Erik Nilsson
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.